Wahlen in der Türkei

Fakten • Hintergründe • Aussichten

Am 3. November 2002 fanden in der Türkei vorgezogene Parlamentswahlen statt. Das Echo war auch in den westlichen Ländern anhaltend: „islamischer Schock“, „Sieg des Islamismus“, „Ende der Westbindung“ usw. Die BRD, ökonomisch stärkster Oberherr der Türkei, hat ein ausgeprägtes Interesse an „starken politischen Verhältnissen“ bei ihrem „Bündnispartner“.

Die Wahlen wurden notwendig, weil die bestehende Koalitionsregierung unter Führung des greisen Ministerpräsidenten Ecevit das Vertrauen der Massen verloren hatte. Auch für die Bourgeoisie hatte die Regierung dadurch ihre Funktion verloren. Zudem gab es in der Regierung unüberbrückbar scheinende innere Widersprüche, die sich vor allem in der Haltung zur EU manifestierten: Während eine Regierungspartei –die ANAP von Mesut Yılmaz– als die „Pro-EU-Partei, koste es, was es wolle“ sich zu profilieren suchte, profilierte sich eine andere Regierungspartei –die MHP– als Wahrer der „nationalen Interessen“ gegenüber den „gekauften EU-Fans“. Devlet Bahçeli, der Chef der MHP und stellvertretender Ministerpräsident –wie Yılmaz auch–, verkündete sinngemäß, es gäbe zwei Lager in der Türkei: das Lager der Europaliebhaber und das Lager der Türkeiliebhaber. Yılmaz hielt dagegen, von der Mitgliedschaft in der EU hänge die „Zukunft unserer Kinder“ ab, darum sei es notwendig, alles in kürzester Zeit in die Wege zu leiten, was die EU-Kommission von der Türkei als „Hausaufgaben“ fordere. Es war auch die MHP, die den Weg für vorgezogenen Neuwahlen freimachte, als sie sah, dass es Vorbereitungen gab, eine neue Regierung der Pro-Europäer unter Ausschluss der MHP zu installieren.

Außerdem nahmen an den Wahlen Hunderte Personen als „Unabhängige“ - d.h. nicht auf der Liste einer politischen Partei, sondern als Einzelpersonen teil. Der Vorteil ist, dass für unabhängige Kandidaten nicht die 10 Prozent Hürde im Landesmaßstab (etwa drei Millionen Stimmen bei diesen Wahlen!) gilt. Unabhängige Kandidaten, die in ihrem Wahlkreis die notwendige Stimmenzahl (das sind gültige Stimmen geteilt durch die im Wahlkreis zu wählende Mandatszahl) bekommen, werden direkt gewählt. Bei diesen Wahlen haben die unabhängigen KandidatInnen insgesamt 314724 Stimmen bekommen. Dies ist ein Prozent der gültigen Stimmen.

So entstand ein neues Parlament bestehend aus 363 AKP-, 178 CHP- und 9 „unabhängigen“ Parlamentariern.

Wer stand zur Wahl?

An den Wahlen nahmen insgesamt 18 Parteien teil.

Zahl der Wähler/innen

41438538

Abgegebene Stimmen

32733410

Wahlbeteiligung in Prozent

78,99%

Nichtwähler

21,01%

Gültige Stimmen

31448428

In Prozent

75,89%

Die gültigen Stimmen wurden unter den Parteien folgendermaßen verteilt:

Parteien

Stimmen

in Prozent

Parlamentssitze

AKP

10779489

34,27

363

CHP

6099083

19,39

178

DYP

3004842

9,55

0

MHP

2622545

8,33

0

GP

2277651

7,40

0

DEHAP

1953627

6,21

0

ANAP

1610708

5,12

0

SP

782189

2,48

0

DSP

385950

1,22

0

YTP

360987

1,14

0

BBP

323652

1,02

0

YP

294972

0,93

0

İP

162429

0,51

0

BTP

149928

0,47

0

ÖDP

106095

0,33

0

LDP

89644

0,28

0

MP

69709

0,22

0

TKP

60204

0,19

0

AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi / Partei der Gerechtigkeit und des Fortschritts): Diese Partei wurde etwa ein Jahr vor den Wahlen gegründet. Die islamistische „Fazilet Partisi“ (Tugendpartei), die bei den letzten Wahlen im Jahre 1999 mit etwas mehr als 15 Prozent der Stimmen –als die größte Oppositionspartei mit über 100 Mandaten– ins Parlament einzog, wurde durch das Betreiben der herrschenden kemalistischen Bürokratie 2001 durch ein Verfassungsgerichtsurteil verboten. Die herrschende kemalistische Bürokratie hoffte dadurch die islamistische Bewegung in der Türkei zu schwächen. Als das Verbot der Fazilet-Partei auf der Tagesordnung stand, entwickelten sich in dieser Partei zwei Flügel: Der eine wollte weiterhin an einem Staatsmodel nach islamischem Recht festhalten, allerdings sollte dieses Ziel mit „demokratischen Mitteln“ erreicht werden. Dieser Flügel bekannte sich zu dem Gründer und Führer der politisch-islamistischen legalen Bewegung, Necmettin Erbakan – dem „politische Betätigung in einer Partei“ gerichtlich verboten wurde. Der andere Flügel der Partei nannte sich „Erneuerer“. Sie vertraten, dass alle bisherigen Erfahrungen gezeigt hätten, dass die direkte Konfrontation mit den „laizistischen“ und „kemalistischen“ Gruppen der Gesellschaft und mit der westlichen Welt kontraproduktiv sei. Nötig sei eine neue moderne Partei für die Versöhnung der gesamten Gesellschaft und die Aussöhnung mit dem Westen. Diese neue Partei soll eine „islamisch-demokratische Partei“ sein, eine Partei, die sich der Mitte öffnet, eine konservativ-demokratische Partei, wie etwa die „christlich-demokratischen Parteien“ in Europa, oder aber auch wie die Republikanische Partei in den USA - nur mit islamischem Vorzeichen. Der Führer dieses Flügels war Recep Tayyip Erdoğan, ein Zögling Erbakans und ehemaliger relativ „erfolgreicher“ Bürgermeister von Istanbul. Er wurde 2001 wegen Zitieren eines Gedichtes bei einer öffentlichen Veranstaltung in Nord-Kurdistan zu einer Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt. Das Gedicht, in dem sinngemäß zum religiösen Krieg aufgerufen wurde, stammt aus der Zeit des sogenannten Befreiungskriegs der Türkei, als die Kemalisten ihren Kampf auch religiös unterfüttert begründet hatten. Damit war er vorbestraft und konnte sich nach geltenden Gesetzen zu einer Wahl nicht vor dem Januar 2003 wieder als Kandidat aufstellen lassen. Nach dem Verbot der Fazilet-Partei, entstanden aus diesen zwei Flügeln zwei eigenständige Parteien. Einerseits die „AKP“ unter Führung von Erdoğan, und die „Saadet-Partei“ (Partei der Glückseligkeit), die an Erbakans Linie festhielt. Die Parlamentsfraktion der ehemaligen Fazilet-Partei spaltete sich in etwa zwei gleich starke Gruppen, so dass sowohl die AKP als auch die SP mit je 50 Parlamentariern im Parlament vertreten waren.

Den kemalistischen Staatsbürokraten passte die Spaltung gut ins Konzept. Dafür wurde Erdoğan in den Medien sogar als Erneuerer hochgelobt, alles mit der Hoffnung verbunden, von dieser Spaltung eine Schwächung der Islamisten insgesamt zu erwarten. Die Umfragen nach den Verbot der Fazilet-Partei, der Spaltung und der Gründung der AKP zeigten aber, dass die Propaganda der AKP, eine völlig neue Partei zu sein in der Bevölkerung auf fruchtbaren Boden stieß. Bei den Meinungsumfragen war die neu gegründete AKP auf einmal die stärkste Partei und zwar mit Prozentzahlen, von denen die islamistisch-politische Richtung nicht einmal zu träumen wagte! Die Operation des kemalistischen Staates durch Verbot und Spaltung die Islamisten zurückzudrängen war komplett fehlgeschlagen. Mit einer moderaten und moderner agierenden Partei erreichte nun die islamistische Bewegung auch Schichten der Bevölkerung, die sie vorher nicht erreichen konnte. Auf diese Entwicklung reagierte die kemalistische Staatsbürokratie mit zwei Maßnahmen: Einmal wurden die juristischen Schritte gegen die AKP intensiviert. Erdoğan wurde auch die Mitgliedschaft in einer Partei verboten. Sein Parteivorsitz wurde so juristisch in Frage gestellt. Gewitzt hatte die AKP in ihrem Statut nicht festgelegt, dass zum Parteivorsitz nur ein Mitglied der Partei gewählt werden kann, sondern lediglich von einer Person gesprochen, die das Vertrauen genießt. Also Erdoğan ist Vorsitzender einer Partei, deren Mitglied er nicht ist! Aziz Nesin, der berühmte spöttische Dichter, hätte seine Freude gehabt! Außerdem wurden mehrere Verfahren wegen Veruntreuung gegen Erdoğan und seine Mitarbeiter eröffnet. Parallel wurden in einer Medienkampagne alte Videos von Erdoğan und anderen AKP-Führern immer wieder abgespielt, in denen sie in verschiedenen Veranstaltungen einen neuen Staat nach islamischem Recht einfordern. Der Tenor dieser Kampagne war: Seht her, diese Leute wollen unseren laizistischen Staat durch einen islamistischen ersetzen. Es wurde während der Wahlkampagne ein richtiges Horrorszenario entworfen. Recht offen wurde gedroht, dass für den Fall einer Regierungsmehrheit für die AKP bei den Wahlen das Militär eine AKP-Regierung nicht zulassen und die Türkei „nur verlieren“ wird. Als Adresse für die Verhinderung dieses Horrorszenarios wurde vor allem die „von Atatürk gegründete Partei CHP“ vorgeschlagen.

Die Wahlergebnisse zeigten, dass dies alles nichts genützt hat!

Mit 34,27% der gültigen Stimmen wurde die AKP mit Abstand die stärkste Partei der Türkei.

CHP (Cumhuriyet Halk Partisi / Republikanische Volkspartei): Diese nunmehr einzige Oppositionspartei im Parlament ist im Prinzip die einzige politische Partei, die so alt ist wie die 1923 gegründete Republik Türkei. Sie wurde von Kemal Atatürk als Staatspartei gegründet und war bis 1946 praktisch die einzige legale Partei in der Türkei. Nach 1946, im Zuge der „Westbindung“ und der sogenannten Demokratisierung wurden andere Parteien zugelassen. 1950 wurde die Demokratische Partei Regierungspartei. Die CHP wurde Oppositionspartei. Seit dieser Zeit waren in der Parteienlandschaft in der Türkei zwei Hauptparteien, die zwei politische Richtungen vertreten, vorherrschend:

Die CHP-Richtung: Sie hat sich immer als Hüter der kemalistischen, laizistischen Türkei verstanden. Ihre Hauptbasis war die Staatsbürokratie und die bürokratische Bourgeoisie, die in der Türkei einen wichtigen Teil der Bourgeoisie ausmacht. Mit dem Militär versteht sich diese Partei sehr verbunden und sieht in ihm den „Wahrer der Republik“. Diese Richtung sieht den Islamismus als eine Bedrohung des Staates und handelt den westlich orientierten Kemalismus quasi als eine Ersatzreligion. Das Volk war in den Augen dieser Richtung eine „zu erziehende und zu führende wissenslose“ Masse. Ab der zweiten Hälfte der sechziger Jahre des vorigen Jh. hat sie sich selbst als eine „linke“, „links der Mitte“ Partei definiert.

Die DP-Richtung: Sie hat nichts grundsätzliches gegen den kemalistischen Staat, will ihn aber etwas entbürokratisieren und die Westbindung der Türkei intensivieren, die Wirtschaft und die Gesellschaft liberalisieren. Diese Richtung hat mit den Islamisten mehr Berührungspunkte. Sie hat ihre Basis eher in den ländlichen Gebieten bei den Bauern und wird von den Militärs nicht favorisiert. Die DP-Regierung wurde nach 10 jähriger Machtausübung zwischen 1950–60 durch einen Militärputsch gestürzt und der damalige Ministerpräsident, der Innen- und Außenminister wurden gehenkt! Diese Richtung hat sich gegenüber der CHP als „Mitte“ und „rechts der Mitte“ positioniert und definiert.

Die Nachfolgepartei dieser Richtung, die Adalet-Partei (Gerechtigkeitspartei), war ab 1965 wieder an der Regierung. Ihre Regierungstätigkeit wurde 1971 und 1980 wieder durch Militärputsche unterbrochen.

Die CHP hat sich nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 gespalten. Aus der von der Militärjunta - wie übrigens alle anderen Parteien auch- aufgelösten CHP gingen zwei Parteien hervor: Die DSP von Bülent Ecevit. Sie ist angetreten mit dem Anspruch, auch religiös-konservative Teile der Bevölkerung anzusprechen und das „Staatspartei“-Image abzulegen. Der andere Teil der CHP hat sich als Wahrer der Tradition der CHP verstanden und hat bis Anfang der 90er Jahre unter verschiedenen Namen firmiert. Als die Parteiverbote des 12. September-Regimes ihre Wirkung verloren hatten, hat sie die CHP wieder gegründet. Ihr neuer-alter Führer wurde Deniz Baykal.

Die CHP hatte in den Wahlen 1999 die 10%-Hürde knapp verfehlt und konnte nicht ins Parlament einziehen. Das war die einmalige Chance der Partei für diese Wahlen. Denn sie konnte sich, da sie nicht im Parlament vertreten war, als Alternative zur herrschenden Politik –die bei den Massen abgewirtschaftet hatte– profilieren. Zudem hatte sich die CHP inzwischen ein neues Programm gegeben, das sich an westlichen sozialdemokratischen Parteien orientiert, und nannte sich auch sozialdemokratisch. Die Umfragen zeigten, dass die CHP nach der AKP die zweitgrößte Partei sein würde. Dies war auch für die Teile der Bourgeoisie, die eine AKP-Regierung als Katastrophe ansahen, das Signal, Kampagnen zur Stärkung der CHP zu inszenieren.

Das Ergebnis ist, dass die CHP die einzige Oppositionspartei im Parlament ist.

DYP (Doğru Yol Partisi / Partei des rechten Weges): Dies ist die Partei, die von sich am meisten behauptet, auf der Traditionslinie der DP zu sein. Gegründet wurde diese Partei von den Kadern, die aus dieser Tradition stammen. Süleyman Demirel, der in der Türkei sieben mal einer Regierung vorstand, zwei Putsche überlebt hat, stand hinter dieser Partei. Seit den neunziger Jahren wird diese Partei von Tansu ?iller angeführt. Im vorhergehenden Parlament saß diese Partei auf den Oppositionsbänken und rechnete damit, mindestens die 10%-Hürde zu überspringen und so ihre Führerschaft als „Mitte-rechts Partei“ –die ihr von der ANAP streitig gemacht wurde– zu dokumentieren und die ANAP in sich aufzulösen. Dieses Ziel konnte sie nicht erreichen.

MHP (Milliyetçi Hareket Partisi / Partei der nationalistischen Bewegung): Diese Partei ist die offen türkisch chauvinistisch-rassistisch-faschistische Partei. Um Missverständnissen vorzubeugen: Der türkische Chauvinismus ist -natürlich in verschiedenen Formen- Konsens bei allen Parteien der herrschenden Klassen in der Türkei. Und die Herrschaftsform in der Türkei ist, trotz mancher demokratischen Rechte auf dem Papier, noch immer offen terroristisch – d.h. faschistisch. In diesem Sinne kann man alle staatsbejahenden, -treuen und -tragenden Parteien faschistisch nennen. Was die MHP von anderen unterscheidet, ist, dass sie aus einer Tradition kommt, die in ihrer Programmatik den türkischen Rassismus und den zivilen faschistischen Terror offen festschreibt, und auch faschistische bewaffnete Banden -als Hilfskräfte für den Staat!- organisiert hat. Diese Partei saß seit 1999 in der Koalitionsregierung von Ecevit. Der Chef der Partei war stellvertretender Ministerpräsident. Vorgezogene Neuwahlen sah diese Partei als Ausweg gegen das angebliche „Komplott um eine Regierung ohne MHP-Beteiligung zu schaffen“. Als sie vorgezogene Neuwahlen forderten, sah es so aus, als ob die MHP als einzige Regierungspartei die 10%-Hürde schaffen könnte.

Die Ergebnisse zeigten, dass auch diese Rechnung nicht aufging.

GP (Genç Parti / Junge Partei): Dass die Rechnung der MHP nicht aufging, liegt auch an dieser Partei, die neben der AKP die zweite Überraschung dieser Wahlen ist. Die GP wurde drei Monate vor den Wahlen gegründet, und fing schon bevor überhaupt klar war, ob und wann die vorgezogenen Wahlen stattfinden, mit ihrer Wahlkampagne an. Der Gründer dieser Partei ist Cem Uzan. Die Familie Uzan ist eine der reichsten Kapitalisten-Familien der Türkei. Die Familienholding „Uzan-Holding“ ist eine der größten Kapitalgesellschaften der Türkei, mit Kapitalanlagen in fast allen Bereichen der Wirtschaft. Zudem besitzt die Uzan-Holding den zweitstärksten privaten Medienkonzern mit 6 nationalen und über Hundert regionalen TV-Anstalten und Hunderte von Radiosendern. Außerdem gehören ihr der Hauptanteil am Handy-Provider-Markt in der Türkei. Mit dem mächtigen Medienkonzern Doğan-Holding, der Hürriyet, Milliyet etc. herausgibt, der praktisch ohne Konkurrenz war bevor die Uzan-Holding in diesem Bereich tätig wurde, läuft ein richtiger Verdrängungskrieg mit allen Mitteln. Da die Regierungsparteien auf Seiten der Doğan-Holding standen –„von ihnen gekauft waren“, wie Cem Uzan sagte–, war es ein offensichtlich logischer Schritt, dass die Uzan-Holding sich ihre eigene politische Partei schaffte. Mit einer pompösen, nicht mehr zu übertreffenden nationalistisch-faschistischen Wahlkampagne, die vor allem die arbeitslosen Jugendlichen und jugendliche Frauen ansprach, gewann diese Partei auf Anhieb 7,4 Prozent der Stimmen. Dies reichte zwar nicht aus, um ins Parlament zu kommen, aber es reichte allemal um die MHP und DYP –aus deren Wählerreservoir sich Cem Uzan vor allem bediente– aus dem Parlament hinauszukanten.

DEHAP (Demokratik Halk Partisi / Demokratische Volkspartei): Als die vorgezogenen Neuwahlen beschlossen wurden, wurde von der Nationalen Wahlkommission eine Liste veröffentlicht. Auf dieser Liste standen 23 Parteien, die die Kriterien erfüllten, um an den Wahlen teilnehmen zu können. Es gab darunter Parteien, die im Prinzip keine Rolle spielten, und nur formell existierten. Die DEHAP war eine von diesen formell existierenden Parteien.

Gegründet wurde sie sozusagen als „Reservepartei“, die im Falle eines Verbots von HADEP (Halkin Demokrasi Partisi / Demokratiepartei des Volkes) auf den Plan treten sollte. Es war ja auch ein Verbotsprozess gegen HADEP beim Verfassungsgericht anhängig. Es ist in der Türkei nicht gerade unüblich, dass Vorbereitungen getroffen werden für den Fall eines Falles! Der Verbotsantrag gegen HADEP wurde mit Unterstützung einer „die Einheit des Staates bedrohenden, spalterischen Terrororganisation“ begründet. Gemeint war damit die PKK, die sich seit Ende 2001 in KADEK umbenannt und vom bewaffneten Kampf und überhaupt vom Kampf für einen Staat Kurdistan losgesagt hat. Die „Umorientierung“ der PKK bedeutete aber für den türkischen Staat noch lange nicht, die PKK nicht mehr als „spalterische Terrororganisation“ weiter zu bekämpfen. Die HADEP wurde beschuldigt, „die Nachfolgeorganisation einer vom Verfasssungsgericht verbotenenen Partei“ zu sein. D.h. die Verbotsgefahr für HADEP war real.

Trotzdem wollte HADEP, die in Nordkurdistan eindeutig die stärkste Partei ist, sich vor allem auf die kurdische Bevölkerung stützt und sich als eine Partei für die Rechte der kurdischen Bevölkerung definiert, bei den Wahlen als Partei teilnehmen. Eine Teilnahme mit unabhängigen Kandidaten in den Wahlkreisen, wo die HADEP am stärksten ist –was bedeutet hätte, dreißig bis fünfzig Mandatsträger ins Parlament zu schicken–, lehnte die HADEP mit der Begründung ab, man wolle sich nicht verstecken und mit offener Identität auftreten. Im Übrigen hätte HADEP keine Probleme die 10%-Hürde zu überspringen.

Während einige HADEP-Offizielle sich so positionierten, führten andere Parteiführer Gespräche mit Vertretern der Parteien ANAP, SP und SHP um eine Wahlallianz zu bilden.

Aber das Militär drohte den Parteien der Herrschenden, die mit HADEP Gespräche führten, offen, dass keine „Verräter und Spalter“ im Parlament geduldet werden. Diejenigen, die die HADEP ins Parlament mitbringen, würden zur Verantwortung gezogen. Somit fielen die Pläne der Wahlallianz mit einer der Partei der Herrschenden ins Wasser.

Dann kam eine andere Allianz, die von den linken Kräften in der HADEP gefordert wurde, auf die Tagesordnung: Die Allianz der Kräfte, die sich „links“ neben den sozialdemokratisch nennenden Parteien befinden. Die HADEP führte Gespräche mit verschiedenen „linken“ Gruppen. Am Ende kam die „Allianz der Arbeit, der Demokratie, des Friedens“ heraus. Neben HADEP waren in dieser Allianz noch zwei weitere, verglichen mit HADEP kleinere Gruppen, und zwar die EMEP (Emeğin Partisi/ Partei der Arbeit), eine legale Partei, die sich sozialistisch nennt, die gegründet wurde von Leuten, die aus der Tradition der Partei der Arbeit Albaniens (Enver-Hodscha-Linie) kommen und die SDP (Sosyalist Demokrasi Partisi). Diese Partei spaltete sich 2002 von der ÖDP (siehe unten) ab, weil die ÖDP immer rechter wurde und die parteiinterne Demokratie nach und nach abgeschafft hatte. Vor allem in der kurdischen Frage hatte die ÖDP sich indifferent verhalten, was die fortschrittlichen Kräfte in der ÖDP zu Recht kritisierten. Als die ÖDP den Hungerstreikenden die Solidarität verweigerte, war das Fass übergelaufen. Die linken Kräfte wurden entweder mit Disziplinarmaßnahmen von der ÖDP ausgeschlossen, oder sie traten selber aus und gründeten eine neue Partei, die SDP.

ANAP (Anavatan Partisi / Mutterlandspartei): Diese Partei wurde von einem der Zöglinge Süleyman Demirels, Turgut Özal 1983 gegründet, als die vor 1980 existierenden Parteien von der 12. September-Junta verboten wurden. Als die Junta beschlossen hatte, nun sei es wieder an der Zeit ein wenig „Demokratie einzuführen“, kreierte sie ein System, bei dem im Parlament nur zwei Parteien (eine Regierungspartei mit absoluter Mehrheit und eine Oppositionspartei), beide „organische Institutionen des demokratisch-laizistisch-kemalistischen Systems“, existieren sollten. Dazu haben sie die 10%-Hürde erfunden. Außerdem war jede Parteigründung von der Gnade der fünfköpfigen Junta abhängig. Mehrere Parteigründungsanträge wurden abgelehnt. Neben zwei von der Junta erwünschten Parteien wurde als dritte Partei die ANAP von Özal zugelassen. Die Junta ging davon aus, dass diese Partei beim Volk keine Chance haben würde, und eine dritte zugelassene Partei für die Kosmetik gut wäre.

Die ANAP trat dann als eine neue Partei auf, die die „vier politischen Strömungen der Türkei“ in sich vereinigen wolle. Sie erschien den Massen als die der Junta am entferntesten stehende Partei. Als die Umfragen zu den Wahlen 1984 zeigten, dass die ANAP die Wahlen gewinnnen könnte, hat der Juntachef Evren ziemlich offen von der Wahl dieser Partei abgeraten.

Prompt ging sie als Siegerin mit einem Stimmenanteil von 46% aus den Wahlen hervor und stellte allein die Regierung.

Seit 1984 ist diese Partei entweder allein oder in Koalitionen an Regierungen beteiligt gewesen. Ihre Massenunterstützung war ständig rückläufig. Die heutige Führung dieser Partei hat sich in der Vergangenheit zuerst als die wahre Staatspartei und dann nach und nach als die Partei der überzeugten „EU-Anhänger“ zu profilieren versucht. Hinsichtlich der Erbmasse der DP-Tradition und der Frage „wer ist die eigentliche mitte-rechts Partei der Türkei“ hat die ANAP sich mit der DYP einen ständigen Kampf geliefert.

Bei den Wahlen hat die ANAP ihr bisher schlechtestes Wahlergebnis erzielt und blieb zum ersten Mal in ihrer Geschichte außerhalb des Parlaments. Zudem hat sie ihr Ziel, die stärkere, mindestens aber etwa gleich starke Kraft wie die DYP zu sein, verfehlt.

SP (Saadet Partisi / Partei der Glückseligkeit): Diese Partei wurde wie die AKP nach dem Verbot der islamistischen Fazilet-Partei gegründet und versteht sich als die wahre Vertreterin der Tradition der Erbakan-Linie (siehe oben). In ihrer Argumentation tritt sie viel religiöser auf als die AKP. Sie hat eine feste Basis, die etwa zwischen 7-8% der Stimmen ausmacht. Daher die 10% Hürde. Die Saadet-Partei hat in der heißen Phase der Wahlkampagne auch direkt mit Erbakan geworben, obwohl er mit Verbot der politischen Tätigkeit belegt ist.

Trotzdem hat sie nur etwa 2,5 Prozent der Stimmen gekriegt, d.h. sie hat etwa 2/3 ihrer Stammwählerschaft –anscheinend an die AKP– verloren.

DSP (Demokratik Sol Parti / Partei der demokratischen Linke): Diese von Bülent Ecevit gegründete Partei war aus den Wahlen 1999 als stärkste Partei hervorgegangen und Ecevit führte als Ministerpräsident die Koalitionsregierung aus DSP-ANAP-MHP. Während ihrer Regierungszeit durchlebten Nordkurdistan/Türkei und vor allem die werktätigen Massen, die Bauern, die Kleinhändler hintereinander zwei enorme ökonomische Krisen. Zu Millionen von Arbeitslosen kamen neue hinzu. Geschäfte gingen zu Hunderttausenden Pleite und die Inflation schoss hoch. Um den Staatsbankrott abzuwenden, hat die Regierung ein Programm durchgezogen, das von IWF/Weltbank diktiert wurde. Der türkische stellvertretende Präsident der Weltbank, Kemal Dervi߬ wurde Ende 2001 als Superminister –als de facto vierter Koalitionär– in die Regierung geholt. Durch die sog. Sanierungspolitik von IWF/Weltbank wurden die Armen ärmer, die Spekulanten reicher. Die DSP wurde wegen dieser Politik bei den Wahlen am schlimmsten bestraft. Von der stärksten politischen Kraft schrumpfte sie zu einer unwichtigen 1%-Partei.

YTP (Yeni Türkiye Partisi / Partei der Neuen Türkei): Diese Partei wurde durch die Spaltung der DSP im Juni 2002 gegründet. Als klar wurde, dass die Koalitionsregierung das Vertrauen der Bourgeoisie verloren hatte und eine neue Regierung ohne MHP und ohne den greisen-kranken Ecevit gesucht wurde, haben die Medien eine Kampagne zugunsten von Ismail Cem (Außenminister im Kabinett Ecevits), Hüseyin Özkan (Staatsminister und nächster Vertrauter von Ecevit) und Kemal Derviߠ(Superminister mit dem Ressort Finanzen und Wirtschaft) gestartet. Es wurden Umfragen veröffentlicht, nach denen eine von diesem Triumvirat geführte, moderne, westlich orientierte, auch sich sozialdemokratisch positionierende Partei, die ziviler als die DSP und CHP auftritt, Chancen hätte bei einer etwaigen Wahl die stärkste Partei zu werden. Sie wurde als die Rettung präsentiert. So wurde die DSP gespalten, die YTP gegründet, über die Hälfte der DSP-Parlamentarier gingen zu YTP über. Aber obwohl Kemal Derviߠbei der Spaltung der DSP und bei der Gründung der YTP einer der Hauptverantwortlichen war, entschied er sich später um und ging zur CHP, die bei den Umfragen vor der YTP zu liegen schien.

Die YTP, die als „Neue“ Partei geschaffen wurde, sozusagen als „die Hoffnung“, wurde selber zu einem hoffnungslosen Fall. Sie erhielt sogar einige tausend Stimmen weniger als die DSP.

BBP (Büyük Birlik Partisi / Partei der Großen Einheit): Diese Partei ist durch eine Abspaltung der MHP in den späten 80er Jahren entstanden und eine „zivil faschistische“ Partei. Sie wetteifert mit der MHP darum, wer die besseren Pan-Turkisten und die besseren Nachfolger von dem verstorbenen Oberfaschisten Alpaslan Türkeߠsind. Sie war und bleibt eine zur Zeit 1%-Partei.

İP (İ߃?i Partisi / Arbeiterpartei): Dies ist eine der „interessantesten“ Parteien der Türkei. Die Führer dieser Partei kommen allesamt aus der „Revolutionären Arbeiter- und Bauernpartei der Türkei“ aus den frühen siebziger Jahren. Schon damals –1972– hatte İbrahim Kaypakkaya, der Begründer der marxistisch-leninistischen Partei Nordkurdistan/Türkei in seinen Schriften über den „ޡfak- (das war der Name der illegalen Massenzeitung dieser Partei) Revisionismus“ die Führung dieser Partei entlarvt als das, was sie ist: Revisionistische, reformistische Anhänger des Kemalismus. Den Kemalismus nannte er die türkische Art des Faschismus! Nachdem die wirklichen Marxisten-Leninisten sich von dieser revisionistischen Partei getrennt hatten, entwickelten sich die ehemaligen „Mao-Tsetung-Ideen-Anhänger“ zu offenen Kemalisten. Sie sehen heute in der faschistischen türkischen Armee eine „antiimperialistische revolutionäre nationale Kraft“, die sich den Plänen des US-Imperialismus widersetzt. Für sie ist die faschistische türkische Armee die „Speerspitze der antiimperialistischen nationalen Kräfte in der Türkei“. In ihrem Wahlprogramm und ihrer Rhetorik sind sie fast chauvinistischer aufgetreten als MHP und BBP. Ein Grundzug ihrer Politik sind ihre maßlose Selbstüberschätzung und dubiosen Komplotttheorien. Ihre ganze Wahlkampagne, die nach eigenen Angaben mehr gekostet hat als z.B. die Wahlkampagne der DSP und YTP, fußte auf dem Zweckoptimismus „Wir haben die 10% überwunden, wir kommen an die Macht!“. Nach den Wahlen kam das aktuelle Komplottscenario: Ihr Vorsitzender Doğu Perinçek begründete das Wahlergebnis, bei der die İP noch einmal als eine „Tausendstel-Partei“ bestätigt wurde: „Es war tatsächlich so, dass die nationalen Kräfte in Gestalt der İP allein an die Macht gekommen wären. Unsere Untersuchungen haben das klar gezeigt. Deswegen haben wir die Parole ausgegeben Ԅie 10%-Hürde haben wir überwunden, wir kommenծ Aber als die Lakaien des Imperialismus gesehen haben, dass die nationalen Kräfte in Gestalt der İP allein an die Macht kommen, haben sie ein Komplott geschmiedet um das zu verhindern. Die Genç-Parti wurde gegründet, um die alleinige Macht der İP zu verhindern. Sie haben Millionen von Dollar ausgegeben und die Genç-Parti nur zu einem Zweck kreiert: Unsere Macht zu verhindern. Guckt doch die Wahlkampagne der GP an. Sie haben unsere Politik und Parolen geklaut!“ (Aus der Rede des Vorsitzenden bei „Ulusal Kanal“ vom 4.11.2002. Dies ist eine private TV-Anstalt der İP, die per Satellit sendet)

BTP (Büyük Türkiye Partisi / Partei der Großen Türkei): Das ist eine Partei eines alevitischen Kapitalisten, der durch die Stimmen der Aleviten ins Parlament zu kommen versuchte. Der Versuch scheiterte.

ÖDP (Özgürlük ve Demokrasi Partisi / Partei der Freiheit und Demokratie): Diese Partei wurde in den frühen neunziger Jahren nach dem Zusammenbruch des russischen Sozialimperialismus von Leuten, die aus verschiedenen linken Strömungen kamen und eine Գtarreՠund illegale Organisierung ablehnten, als ein neues Parteimodell gebildet. ?hnlich wie die Grünen wollten sie keine Partei, sondern eine Bewegung sein. Sie wollten allen „Oppositionellen“ Platz bieten und die außerparlamentarische linke Bewegung vereinen. Sie war angetreten mit dem Anspruch, die „neue“, „junge“, „demokratische“ Bewegung der Türkei zu repräsentieren. Diese Partei hat sich nach und nach der Situation angepasst und entwickelte sich zu einer linksliberalen Systempartei. Linkere Kräfte haben sich 2002 abgespalten und die SDP gegründet. Vor den Wahlen gab es zwischen dieser Partei und HADEP auch Allianzgespräche, die an dem Festhalten der ÖDP scheiterten, die SDP nicht als gleichrangigen Gesprächs- und Allianzpartner zu akzeptieren. Bei den Wahlen ist und bleibt die ÖDP eine tausendstel Partei.

LDP (Liberal Demokrat Parti / Liberaldemokratische Partei): Angeführt von einem mittleren Kapitalisten der Türkei (Besim Tibuk) besteht diese Partei in der Hauptsache aus Kapitalisten, die für sich eine völlige Liberalisierung in der Wirtschaft fordern. Das ist die Partei, die in ihrem Programm auch die Auflösung der türkischen Armee in der heutigen Form offen propagiert. Bei den Wahlen spielt sie eher als interessanter Talkshow-Gast eine Rolle.

MP (Millet Partisi / Partei der Nation): Eine Partei, die formell existiert, eine kleine religiöse Sekte als Basis hat, und für Sektenführer nur als Verhandlungsmasse beim eventuellen Feilschen mit „großen Parteien“ eine Rolle spielt.

TKP (Türkiye Komünist Partisi / Kommunistische Partei der Türkei): Die „Original“-KP der Türkei wurde September 1920 in Baku gegründet. Ihre 15 Führer, die Januar 1921 auf Einladung der Kemalisten legal nach Anatolien, das im Machtbereich der Kemalisten lag, reisten, um am Befreiungskrieg teilzunehmen und die TKP im Krieg weiter auszubauen, wurden von ihnen brutal ermordet. Die TKP wurde in der später gegründeten Türkischen Republik von den kemalistischen Regierungen ständig verfolgt und konnte sich nie zu einer wirklichen revolutionären Massenpartei der Werktätigen entwickeln. Sie schätzte den Kemalismus als antiimperialistisch, ja zum Teil national-revolutionär ein. Auch ihre versöhnlerische, zum Teil dem Kemalismus nachtrabende Politik rettete sie nicht vor brutalen Verfolgungen. Nach der Verhaftungswelle 1952 wurde sie als Organisation in der Türkei völlig zerschlagen. Danach existierte sie als Auslandsorganisation, die von der KPdSU und ihren Bruder-/Schwesterorganisationen abhängig war. In den späten sechzigern hat sie angefangen in der Türkei wieder Fuß zu fassen. Ihr kam dabei die sich insgesamt entwickelnde linke Bewegung –vor allem die Gewerkschaftsbewegung– zu gute. Sie hatte in der legalen linken Arbeiterpartei der Türkei (TIP) und in der Gewerkschaftskonföderation DISK großen Einfluss gewonnen. Sie war aber zu der Zeit schon eine Auslandsagentur des russischen Sozialimperialismus. Teile der legalen revisionistischen Linken in TIP und TSIP haben sich gegen die Abhängigkeit von der KPdSU gewandt. Aber der Großteil wurde von den Möglichkeiten der TKP angezogen. In der Auslandsorganisation der TKP, die ab den 60er Jahren die Zentrale wurde, tobte ein Kampf vor allem um die Pfründe der „Bruderorganisationen“. So gab es einige Säuberungen und eine größere Spaltung. Der Putsch vom 12. September 1980 traf mit aller Wucht die Türkei-Organisation der TKP, die gesetzlich verboten war, aber stark legalistisch arbeitete. Die sich ins Ausland rettenden Kader haben die Führung der TKP übernommen. Diese TKP hat dann die Wandlung der Bruderorganisationen vom Breschnew-Revisionismus bis zu Gorbatschow mitgemacht und wandelte sich dann in die offen sozialdemokratische TBKP (Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei) um. Sie löste sich, als sie nicht als legale Partei zugelassen wurde, auf. Einige versprengte Kader in der Türkei lehnten diese Selbstauflösung der Partei ab und wollten auf der Breschnew-Linie weiter arbeiten, natürlich mit der Erklärung, man müsste die Vergangenheit kritisch aufarbeiten. Ein Teil dieser erzrevisionistischen Kader haben die legale SIP (Sosyalist İktidar Partisi /Partei der sozialistischen Macht) gegründet. Sie geben eine Zeitschrift mit dem Namen Gelenek / Tradition (gemeint ist wohl die revisionistische!) und mehrere andere Publikationen heraus. Die SIP hat sich dann auf ihrem Kongress in TKP umbenannt. Das ist die TKP, die an den Wahlen teilgenommen hat. Das war ein geschichtliches Novum, denn zum ersten Mal in der nun 79-jährigen Geschichte der „Republik Türkei“ hat an den Wahlen eine Partei teilgenommen, die in ihrem Namen den Titel „Kommunistisch“ trägt. Diese Tatsache wird von der sich TKP nennenden Partei als großer Sieg für den Kommunismus gefeiert. Etliche Propagandisten des Systems feierten wiederum diese Tatsache als Sieg des „demokratischen“ Systems. Der Herausgeber der meistgelesenen Zeitung Hürriyet, E. Özkök, schrieb, dass „er sich unheimlich freut, wenn er auf dem Wahlzettel den Namen der TKP mit ihrem Abzeichen Zahnrad und Hammer und daneben die MHP sieht, weil das die Reife der türkischen Demokratie“ zeige. Die Bourgeoisie hat keine Angst mehr vor dem Namen des Kommunismus. Eine Partei, die sich kommunistisch nennt, aber sich dazu klar bekennt „Recht und Gesetz der Türkei“ zu akzeptieren und als Ziel angibt „den Sozialismus auf parlamentarischem Weg“ zu erreichen, kann heute von der türkischen Bourgeoisie geduldet werden. Das schadet ihr nicht, sondern nutzt ihr.

Auch das Wahlergebnis für diese Partei zeigt, dass die Bourgeoisie keinen Grund zum Verbot oder ähnliches gegen diese „Kommunistische“ Partei hat. Wobei man wissen muss, dass viele der insgesamt 60 Tausend Stimmen im Landesmaßstab, nur für den „Kommunismus“ im Namen abgegeben wurden, und nicht der real existierenden TKP galten.

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Einige Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen und wie weiter?

Ein Parlament der Minderheit

Die herrschenden Klassen führen Wahlen durch, um vor allem ihre Herrschaft demokratisch zu legitimieren. Nach den Wahlen stellen sie sich hin und sagen, dass die Mehrheit des Volkes sich für diese oder jene Regierung entschieden habe und damit das Volk vertrete.

Das erste und vielleicht das wichtigste Ergebnis der Wahlen vom 3. November ist: Hinsichtlich des Anspruchs der demokratischen Legitimierung bedeuten die Wahlen für die herrschenden Klassen der Türkei insgesamt eine Schlappe. Das Ergebnis zeigt nämlich, dass das aus diesen Wahlen hervorgegangene Parlament nicht die Mehrheit der WählerInnen repräsentiert.

Wie aus den oben angeführten Ergebnissen zu ersehen ist, gab es bei diesen Wahlen insgesamt 41436538 registrierte WählerInnen. Von diesen 41 Millionen werden in dem neuen Parlament insgesamt 17070936 vertreten. Und zwar AKP 10779489, CHP 6099083 und „Unabhängige Kandidaten“ 172364 Stimmen. Das heißt, es sind nur die Stimmen von 41% der WählerInnen vertreten. Es ist ein Parlament der Minderheit!

8703128 WählerInnen haben an diesen Wahlen nicht teilgenommen. D.h, 21,01% – jeder fünfte Wähler hat sich praktisch dem Legitimationsschauspiel der Herrschenden entzogen, obwohl die Wahlbeteiligung in der Türkei obligatorisch ist und die Nichtwähler mit Geldstrafen zu rechnen haben. Darüberhinaus haben alle Parteien den Wählern unisono eingehämmert, dass „Nichtgebrauch des demokratischen Rechtes der Wahl“ letztendlich nur den -jeweils anderen- nutzen würde. Geht zur Wahl! Wählt, egal wen, aber wählt – war die Devise aller sich an den Wahlen beteiligenden Parteien! Dass trotz alledem jeder 5. Wähler mit seinem praktischen Verhalten die Wahlen als das, was sie sind, als Schauspiel zur Legitimation abgelehnt hat, ist ein positives Ergebnis dieser Wahlen.

Nicht nur das. Von den abgegebenen Stimmen sind insgesamt 1284982 –d.h. 3,1% aller Wähler– ungültig. Wieviele dieser Stimmen bewusst ungültig gemacht worden sind, darüber wird keine Statistik geführt. Man kann aber davon ausgehen, dass ein Großteil der Wähler, die keinem ihr Vertrauen schenken wollten, wegen drohender Geldstrafe zur Wahl gegangen sind und bewusst ungültig gestimmt haben.

Wie dem auch sei, Fakt ist, dass insgesamt 9998110 WählerInnen keiner Partei/keinem Kandidaten ihre gültige Stimme gegeben haben. Das sind 24,11% aller WählerInnen. D.h. jeder/jede vierte WählerIn wird in dem neuen Parlament nicht vertreten sein. Dieses Parlament hat von vornherein nicht das Recht, im Namen dieser WählerInnen zu reden.

An diesem Punkt einige Worte zum „Boykott der Wahlen“. Fakt ist, dass einige linke revolutionäre Gruppen wie DHKP-C, TKP/ML, TKP(ML) und BP Nordkurdistan/Türkei zum Wahlboykott aufgerufen haben. Und Fakt ist, dass der Einfluss der Boykottaufrufer unter der Wahlbevölkerung noch immer eine zu vernachlässigende Größe ist, der sich im tausendstel Bereich befindet. Fakt ist, dass jeder 4. Wähler diese Wahlen praktisch –von sich aus, spontan– boykottiert hat. Es wäre aber vermessen zu sagen, das sei das Ergebnis der Boykotttaktik der revolutionären Organisationen. Die Boykott-Haltung der WählerInnen war eher das Ergebnis ihrer eigenen politischen Praxis, dass sie immer wieder von allen Parteien verschaukelt werden. Ihre Erfahrung ist, dass egal wen sie wählen, sich an ihrer Lage grundlegend nichts ändert. Aber es heißt schon, dass die Organisationen, die zum Boykott aufriefen, sich in diesem Falle als die bewussten Sprecher eines in der Bevölkerung spontan stark existierenden Gefühls und eines Trends betätigt haben.

Nicht nur das. Zu diesen 24,11% der praktischen Boykottstimmen kommen noch 14377492 gültige Stimmen für die Parteien, die die 10%-Hürde nicht übersprungen haben und Stimmen für die unabhängigen Kandidaten, die nicht gewählt worden sind –das sind 34,70% aller Stimmen und 45,71% der gültigen Stimmen–, die auch im Parlament nicht vertreten werden.

D.h. fast jede zweite gültige Stimme, d.h. die Stimme derer, die sich für eine Partei oder Kandidaten entschieden haben, wird in dem neuen Parlament nicht vertreten sein, da ihre Parteien oder Kandidaten nicht die nötige Mehrheit erreicht haben. Ihre Stimmen werden als nicht existent gesehen. So werden z.B. etwa zwei Millionen Menschen, die ihre Stimme der DEHAP gegeben haben, die eine andere Politik als die AKP und CHP vertritt, sich von diesen „vertreten“ bzw. zertreten sehen! In 13 kurdischen Städten war die DEHAP bei dieser Wahl die stärkste Partei, konnte aber kein einziges Mandat im Parlament erringen! Die AKP hat die meisten dieser Mandate für sich gebucht! Endergebnis der Wahlen ist: 58,81% der WählerInnen werden in diesem Parlament nicht vertreten sein. Das ist ein Parlament der Minderheit von 41%. So sehen die „demokratischen“ Wahlen in Nordkurdistan/Türkei aus.

Die stärkste Partei dieses Parlaments AKP hat, wenn man die gültigen Stimmen zur Basis nimmt, 34,27%. Auf der Basis aller Wähler hat sie 26,01% der Stimmen. Mit diesen 26,11% aller Stimmen verfügt sie im Parlament über 363 Sitze, d.h. 66% aller Mandate. Das ist das Ergebnis des durch und durch undemokratischen Wahlrechts der Türkei mit seiner 10%-Hürde.

Wie man es auch dreht und wendet, jede Behauptung der Herrschenden, dass durch die Wahlen vom 3. November hervorgehende Parlament würde den „Volkswillen“ vertreten, ist nichts als eine Lüge!

Es ist natürlich klar, dass diese Legitimationsfrage die Herrschenden nicht daran hindern wird, ihr scheindemokratisches Spiel zu spielen und im Namen der Völker der Türkei zu regieren, Gesetze zu machen etc. Trotzdem ist es wichtig, ihre Lügen zu kennen und sie immer wieder zu entlarven.

Neue Möglichkeiten für die Entwicklung der außerparlamentarischen Opposition

Zum ersten Mal seit 50 Jahren gibt es in der Türkei wieder ein Parlament mit einer allein regierenden Regierungspartei, der AKP, und einer einzigen Oppositionspartei, der CHP. (Der ehemalige Innenminister und Konter-Guerilla Chef Mehmet Ağar, der in Elazığ als Unabhängiger gewählt wurde, trat am 20.11.02 wieder der DYP bei. Somit wird die DYP auch eine Stimme im Parlament haben. Aber das ändert an den Kräfteverhältnissen im Parlament nicht viel). Da die Regierung über eine sehr große Mehrheit verfügt, wird die Opposition im Parlament keine große Rolle spielen können. Darüberhinaus ist es so, wie wir oben dargelegt haben, dass fast 60 Prozent der Wahlbevölkerung sich durch dieses Parlament nicht vertreten fühlen wird. D.h., wir haben vor uns eine Phase, in der die Möglichkeiten für eine außerparlamentarische Opposition viel größer sein werden als je zuvor.

Die RevolutionärInnen müssen diese Möglichkeiten ausschöpfen, um die Hebung des Bewusstseins der Werktätigen und Stärkung ihrer Organisierung voranzutreiben.

Ergebnisse, die das ganze politische System der Herrschenden in der Türkei ins Wanken bringen

Die Ergebnisse der Wahlen haben, obwohl sie im Leben der werktätigen Bevölkerung keine grundlegenden Veränderungen bewirken werden, für die herrschenden Klassen und ihr politisches System eine sehr heikle Entwicklung geöffnet. Diese Ergebnisse bringen das bisherige politische System der Herrschenden völlig durcheinander und ins Wanken.

Zum ersten Mal in der Geschichte der Republik Türkei hat bei diesen Wahlen eine Partei, die von einer islamistischen Traditionslinie kommt, die absolute Mehrheit im Parlament gewonnen. Sie hat nicht nur die absolute Mehrheit, um allein die Gesetze zu ändern, ihr fehlen nur drei Mandate, um allein die Verfassung zu ändern! Das ist ein Ergebnis, was die wirkliche Staatsmacht, d.h. die Armee und die Bürokratie nicht wollten und nicht erwarteten! Um ein solches Ergebnis zu verhindern, hat die kemalistische Staatsmacht –außer dem offenen Militärputsch– alles versucht. Aber das half nichts. Die Mehrheit der gültig stimmenden Wahlbevölkerung hat sich gegen das herrschende politische System, in dem das Militär das Sagen hat, in dem die Parteien und Politiker als Befehlsempfänger der Militärs fungieren, entschieden. Alle Parteien, die die Verantwortung für die Vergangenheit tragen, wurden brutal „bestraft“.

Der Stimmanteil der ehemaligen Regierungsparteien DSP-ANAP-MHP zusammen ist in vier Jahren von insgesamt 53% auf insgesamt 14,67% geschrumpft. Die DSP hat über 90 Prozent ihrer Stimmen, die MHP und ANAP über die Hälfte ihrer Stimmen verloren. Die Vorsitzenden aller dieser Parteien mussten nach dieser desaströsen Wahlniederlage ihre Rücktritte erklären. Mit diesen Ergebnissen werden die DSP und ANAP höchstwahrscheinlich Geschichte. Die MHP ist auf ihre Stammwählerschaft von 8% zurückgestutzt und wird in Zukunft, wenn die GP weiter machen sollte, eher weiter schrumpfen als sich zu erholen.

Die DYP wird sich durch einen Führungswechsel zu erneuern und weiterzumachen versuchen. Allerdings ist die Möglichkeit, dass die AKP sich auch als konservative Partei der Mitte/Mitte-Rechts etabliert und damit der DYP kein Platz bleibt, auch realistisch.

Die SP ist zurückgestutzt auf eine islamische Sektenpartei, die keine große Rolle spielen kann, gesetzt den Fall, dass der AKP der Spagat gelingt, den kleinen radikal-islamistischen Flügel der Partei und Wähler weiter an sich zu binden, trotz Westbindung und Versöhnung mit dem kemalistischen Staat – zum Zwecke der langfristigen Umformierung dieses Staates.

Die CHP, die als einzige Partei außer der AKP die 10%-Hürde erreicht hat, hat, verglichen mit ihrem Wahlergebnis 1999, nicht mal 10% dazugewonnen, trotz der Empfehlungen der Armee und Bürokratie und trotz der Wahlhilfe des größten Medienkonzerns der Türkei!

Ein Ergebnis der Wahlen am dritten November ist, dass die „sozialdemokratische Linke“ insgesamt über 10% ihrer Stimmen an die AKP verloren hat. Der gesamte Stimmanteil der „sozialdemokratischen Linken“ (CHP+DSP+YTP) ist 21,75%. Dieser Stimmanteil lag „traditionell“ zwischen 30-35%!!! D.h. auch der Wahlsieg der CHP ist ein Scheinsieg. Es ist im Grunde genommen eine Niederlage für die sozialdemokratische „Linke“. Das ist die Quittung für die „Staatspolitik“ dieser Staatsparteien.

D.h. die „alt“eingesessene Parteienlandschaft in der Türkei wurde bei den Wahlen völlig umgekrempelt. Und diese Umkrempelung geschah diesmal nicht durch einen Militärputsch, sondern durch die Wahlbevölkerung, durch den Stimmzettel! Dass dabei das von den Herrschenden für andere Zwecke gedachte undemokratische Wahlsystem mithalf, dass das System sozusagen in die eigens selbst ausgehobene Grube fiel, ist tragikomisch!

Das Wahlergebnis zeigt, dass nicht nur einzelne Parteien gemeint sind, sondern das ganze etablierte Parteiensystem! Das vorhergehende Parlament wurde durch die Wahlergebnisse regelrecht liquidiert! Die Partei, die dem Staat am weitesten entfernt aussah, erhielt die absolute Mehrheit! Es sind nicht nur Islamisten, die die AKP gewählt haben. Der Stimmanteil des offenen Islamismus in der Türkei beträgt nicht mehr als 7-8 Prozent. 2,5% dieser Stimmen gingen an die SP. D.h. der islamistische Stimmanteil an den AKP–Stimmen kann höchstens auf 5-6% gerechnet werden. Den Großteil ihrer Stimmen erhielt die AKP von Wählern, die sonst andere Parteien wählen. Die Analysen zeigen, dass a) die AKP von allen Parteien Stimmen bekommen hat, b) sie vor allem in den Großstädten in den Slumvierteln am stärksten ist. Sie ist, was die klassenmäßige Wahlbasis betrifft, eine Partei der Armen! Ihre Propaganda, sie sei eine völlig neue Partei, eine Partei, die gegen das verkrustete bürokratische, korrupte System auftritt, die die Türkei neu gestalten wird, wurde von der Mehrheit der gültig stimmenden Wählern ernst genommen. Sie wurde von ihnen wenigstens als „einmal probefähig“ befunden.

Die AKP hat von ihrer Gründung an erklärt, sie stehe nicht auf der islamistischen Parteitradition. Ihre Demagogie lautet: sie würde eine neue Partei sein, eine konservativ-demokratische Partei, die die Türkei erneuern will, die die Westbindungen der Türkei akzeptiert, den wirtschaftlichen Liberalismus will, die Staatsbürokratie verkleinern, den Staat vom „Befehlenden“ zum „Dienenden“ umformen will, den Armen und den Bedürftigen die Unterstützung der Gesellschaft zukommen lassen will etc. Was die Religion betrifft, würde sie die Religionsfreiheit eines jeden akzeptieren, und den Staat laizistisch halten. Hinsichtlich dem Halbgott der Türkei Mustafa Kemal Atatürk erklärte die AKP, sie sei auf seinem Wege! Eine der ersten Handlungen des Parteivorstandes war der Besuch des Mausoleums von Kemal Atatürk, und der Schwur in dem Besucherbuch „Wir folgen dir, großer Atatürk“!!!

All das wurde von den kemalistischen Herrschenden des Staates mit großer Skepsis verfolgt. Man hat sich immer an den Ausspruch Recep Tayyip Erdoğans erinnert, die Demokratie sei kein Ziel, sondern nur ein Mittel, die man eine zeitlang verwenden muss, um zum Ziel zu kommen, so wie eine Straßenbahn, in die man einsteigt, um bei einer bestimmten Haltestelle auszusteigen. Die AKP wurde von den Kemalisten als „Takiyyeci“ (Sich verkleidende/Die wahren Ziele versteckende) genannt. Es scheint aber, dass die Mehrheit der Wahlbevölkerung die Skepsis des Staates nicht teilt!

Auch die Reaktionen großer Teile der Bourgeoisie in der Türkei und der imperialistischen Mächte zeigen, dass sie die Erklärungen der AKP ernst nehmen und bereit sind, diese in der Praxis zu überprüfen.

Große Teile der Bourgeoisie in der Türkei und die imperialistischen Mächte, vor allem die USA sehen –nach anfänglichem kurzen Staunen und Zögern– in der alleinigen Regierungsmacht der AKP eine Chance. Eine Chance, die Türkei als ein Modell für die Länder mit islamischer Bevölkerungsmehrheit zu entwickeln. Eine pro-imperialistische, wirtschaftsliberale, moderat islamische Regierung, eine den westlichen „christlich-demokratischen“ Parteien ähnliche „islamisch-demokratische“ Partei, die das „Abdriften“ der islamischen Bevölkerung zum islamischen Radikalismus verhindert und sie an das globale imperialistische System bindet. Das wäre für die Imperialisten in der aktuellen Weltlage eine vorteilhafte Option. Für große Teile der türkischen Bourgeoisie, ausgenommen der ideologisch-politisch kemalistischen Teile vor allem im Staatssektor und der Armee, wäre eine solche Türkei eine gute Zukunftsperspektive. Sie wollen die AKP Regierung dahingehend entwickeln.

In ihren ersten Handlungen nach den Wahlen, bei der Bildung der neuen Regierung und bei den Besuchen Erdoğans in den westlichen Hauptstädten, wo über die EU-Mitgliedschaft der Türkei, über die Zypern-Frage, in diesem Zusammenhang dem Annan-Plan, über den möglichen Krieg gegen Irak usw. verhandelt wurde, hat die AKP sich gut verkauft, die westliche Presse hat ihre anfängliche Skepsis fallen lassen! Ob die AKP tatsächlich die ihr von den Imperialisten und großen Teilen der türkischen Bourgeoisie zugedachte, von ihr auch vorher propagierte Rolle erfüllen kann, hängt von vielen Faktoren ab.

Das eine sind der radikale Flügel und die Klientel dieser Partei. Es scheint in dieser Frage, dass die Führung der AKP auf diesen Flügel nicht angewiesen ist, und notfalls auch auf diesen verzichten kann. Das andere ist, wie weit wird die Duldung, ja, die Unterstützung der AKP durch die Imperialisten gehen? Das hängt davon ab, wie wichtig diese die Modellfunktionsrolle erachten. Klar ist aber, dass ohne klare direkte Unterstützung der Imperialisten für die AKP-Regierung (z.B. durch Verschiebung der Schuldenzahlungen, durch Zusage der EU für den Beginn der Mitgliedschaftsverhandlungen, Streichung bestimmter Schulden etc.) sie sehr schnell abwirtschaften und weg vom Fenster sein werden.

Ein anderer Faktor ist: wie schnell wird die AKP nicht nur die Regierung stellen, sondern auch die Macht im Staate erobern wollen. Wie weit will sie gehen, wie wird der Staat reagieren? Es ist so, dass die eigentliche Macht in der Türkei nicht vom Parlament und der Regierung ausgeübt wird, sondern von der kemalistischen Staatsbürokratie, mit der Armee in ihrem Zentrum. Wenn die AKP die Staatsbürokratie umformen will, z.B. sagen wir mal, die Justiz mit Richtern, die ihr nahestehen, neu besetzen will, oder in irgendwelche staatlichen Betriebe Bürokraten einsetzen will, die sie für diese Posten vorsieht, oder z.B. im Außenministerium die Bürokratie mit ihren Anhängern neu besetzen will etc. –und das alles muss sie machen, wenn sie die Macht im Staate will–, dann wird ein Widerstand der alteingesessenen Bürokratie, die traditionell sich als den eigentlichen Staat begreift und durch und durch kemalistisch ist, unweigerlich auf die Tagesordnung kommen. Es wird krachen. Da die AKP das weiss, scheint es so zu sein, dass sie diese Umformung, die Machtübernahme im Staat, als eine längerfristige Aufgabe sieht und sich nicht beeilt. Um die Frage, wie sich das weiter entwickelt, zu beantworten, müssen wir eine Zeit lang abwarten und beobachten.

Unter den Faktoren, die die Lebensspanne und Entwicklung der AKP-Regierung bestimmen werden, ist der Wichtigste ohne Zweifel die werktätige Bevölkerung und ihre Beziehung zur AKP-Regierung. Für einen Großteil der Bevölkerung war und ist die AKP nicht eine bessere Alternative zu anderen Parteien der Herrschenden. Aber für die Mehrheit der gültig Stimmenden ist sie als eine Alternative gesehen worden. Nun wird dieser Teil anhand der eigenen Praxis die AKP prüfen. Wenn massive imperialistische Unterstützung ausfällt, wird es nicht lange dauern, dass große Teile, die ihre Stimme der AKP gegeben haben, anfangen zu begreifen, dass diese Partei nicht viel anders ist als die anderen Parteien.

Wer im Kapitalismus, Imperialismus etwas grundlegend anderes erwartet, kennt die Gesetze des Kapitalismus nicht.

Eine andere, bessere, gerechte Welt ist im Kapitalismus-Imperialismus nicht möglich!

Das werden aber die Massen in ihrer eigenen Praxis sich zu eigen machen müssen.

(Entnommen aus „Trotz alledem“, Zeitung für den Aufbau der Bolschewistischen Partei Deutschland, Nr. 26, Ausgabe Dezember 2002.)